1. Wie stellt sich der Bundesrat zur Instrumentalisierung der Justiz für die Verwirklichung politischer Partikularinteressen?
2. Ist die Justiz gewappnet, um sich der subtilen Druckausübung zu entziehen, die im Rahmen der «strategischen Prozessführung» ganz bewusst auf allen Kanälen ausgeübt wird?
3. Ist «strategische Prozessführung», die losgelöst von konkreten Rechtsschutzinteressen Einzelner erfolgt, im schweizerischen Prozessrecht zulässig?
Grund des Vorstosses:
Politische Gruppierungen ‒ insbesondere aus dem linken Spektrum ‒ bedienen sich vermehrt des Mittels der «strategischen Prozessführung», um Ziele, für die sie im politischen Prozess keine Mehrheiten finden, durch Gerichtsprozesse zu verwirklichen.
So haben die «Klimaseniorinnen» ‒ ein 2016 gegründeter Verein von rund 2’500 Rentnerinnen ‒ auf Initiative von Greenpeace die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) verklagt, weil sie glauben, die Schweiz tue zu wenig gegen den Klimawandel. Sie haben Recht erhalten, obwohl alle Instanzen, selbst der EGMR, die persönliche Betroffenheit verneinten.
Kürzlich hat Inclusion Handicap eine junge Frau dazu ermuntert, einen «strategischen Prozess» gegen die Universität Bern zu führen, weil diese beim Zulassungstest zum Studium der Veterinärmedizin ihrer Dyslexie nicht genügend Rechnung getragen und ihr eine Prüfungszeitverlängerung verweigert habe. Auch sie hat, vor Bundesgericht, Recht erhalten. Die Studentin gab gegenüber dem Tages-Anzeiger unmittelbar nach der öffentlichen Urteilsberatung kund, der Zugangstest sei in näherer oder fernerer Zukunft kein Thema für sie, sie freue sich aber über das Urteil, weil es für viele andere Menschen mit Lese- und Schreibschwäche von Bedeutung sei (7.5.2024).
Das Vorgehen von Inclusion Handicap ist interessant vor dem Hintergrund von Äusserungen seiner Leiterin Gleichstellung an der Universität Basel (24.8.2020). Sie führte aus, im Rahmen der strategischen Prozessführung sei auf den «Sympathiefaktor des Falles» zu achten. Als begleitende Massnahmen gelte es bereits zu einem frühen Zeitpunkt des Prozesses die Medien einzubeziehen, zudem seien flankierend politische Massnahmen auf den verschiedenen Staatsebenen vorzusehen.
All diese Massnahmen dienen offenkundig dazu, Druck auf die Justiz auszuüben, diese Fälle in einem bestimmten Sinne zu entscheiden, wobei konkrete Rechtsschutzinteressen kaum eine Rolle zu spielen scheinen.
Antwort des Bundesrates:
1. Die Gerichte urteilen im Einzelfall und entwickeln dabei das geltende Recht zwangsläufig weiter. Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben haben sie den von Verfassung und Gesetz vorgegebenen Rahmen zu respektieren (vgl. zur Kritik des Bundesrats an der weiten Auslegung der EMRK durch den EGMR die Medienmitteilung vom 28. August 2024). Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Aufgrund der Nähe von Recht und Politik kommt es vor, dass die Gerichte Urteile fällen, die in der Politik auf starke Resonanz stossen (so zum Beispiel die Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Appenzell Innerrhoden oder die Rechtsprechung zu den kantonalen Wahlsystemen).
2. Die richterlichen Behörden sind in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit unabhängig und nur dem Recht verpflichtet (Art. 191c BV). Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ist in einem Rechtsstaat von hervorragender Bedeutung. Sie ist mehrdimensional und beinhaltet die Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Kräften. Die richterliche Unabhängigkeit ist deshalb ein geeignetes Mittel um sicherzustellen, dass die Gerichte trotz in Einzelfällen vorhandenem gesellschaftlichem und politischem Druck ihre Aufgabe wahrnehmen können. Die Gerichte haben es im Rahmen ihrer Selbstverwaltung in der Hand, sich so zu organisieren, dass sie mit neuen Formen von Prozessstrategie, Kommunikation und Einflussnahme der Verfahrensparteien umgehen können. Daneben sind auch die politischen Behörden zur Verwirklichung der richterlichen Unabhängigkeit verpflichtet.
3. Nach Schweizer Recht setzt die Prozessführungsbefugnis einer Person oder Organisation voraus, dass sie durch den angefochtenen staatlichen Rechtsakt besonders berührt sind und ein aktuelles und praktisches Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung haben. Das Erfordernis des «besonderen Berührtseins» verhindert die sogenannten Popularbeschwerden oder -klagen. Nicht jedermann soll staatliche Rechtsakte gerichtlich überprüfen lassen können. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass eine besonders berührte Person im Sinn eines Muster- oder Pilotverfahrens versucht, einen Leitentscheid zu erwirken. Das Kriterium des aktuellen und praktischen Rechtsschutzinteresses stellt sicher, dass Gerichte nicht über theoretische bzw. nicht mehr aktuelle Verfahren urteilen müssen. Unter diesen Voraussetzungen ist es zu Recht möglich, dass bei einer Mehrzahl von möglichen Fällen aus prozesstaktischen Gründen der geeignetste Fall ausgewählt wird.
Chronologie:
Diskussion verschoben
20.12.2024
Nationalrat